Schönbächler, Martina; martina.schoenbaechler@library.ethz.ch
Die digitale Plattform Thomas Mann Nachlassbibliothek Online gehört zum Rechercheangebot am Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich und beinhaltet den Großteil der dort bewahrten physischen Nachlassbibliothek Thomas Manns. Die Datenbank stellt drei Korpora elektronisch zur Verfügung: die Metadaten sämtlicher Einheiten der Nachlassbibliothek, die Publikationsdaten bis und mit Manns Todesjahr 1955 aufweisen; die OCR-Volltexte aller Einheiten mit Lese- und Gebrauchsspuren; die Transkriptionen all jener handschriftlichen Phänomene, bei denen sich Manns Urheberschaft nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit ausschließen lässt. Sofern es sich um bereits gemeinfreie Inhalte handelt, sind diese online zugänglich. Rechtlich geschützte Werke können vor Ort im Lesesaal Sammlungen und Archive der ETH-Bibliothek digital eingesehen werden.
Erstellt wurde die Datenbank von 2016 bis 2019 im Rahmen eines Forschungs- und Digitalisierungsprojekts, das vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) gefördert und in Kooperation zwischen der Professur für Literatur- und Kulturwissenschaft der ETH Zürich und der ETH-Bibliothek durchgeführt wurde (Keller/Ehrismann 2018).[1] Sie steht im Kontext eines seit den 2000er-Jahren zunehmenden bibliotheks-, kultur- und literaturwissenschaftlichen Interesses an Autor:innenbibliotheken, das seither in verschiedenen Retrodigitalisierungs- und digitalen Editionsprojekten umgesetzt wird. Vergleichsprojekte sind beispielsweise die zum Teil noch in Arbeit befindlichen Editionen der Bibliothek Nietzsches ( Nietzsche Source - Digitale kritische Gesamtausgabe ; Nietzsches Bibliothek in der HAAB Weimar ), Stefan Zweig digital , Fontanes Handbibliothek oder die Goethe Bibliothek Online (vgl. auch Innocenti/Martin/Proks 2017, S. 117–118).
Der Bestand von Thomas Manns Nachlassbibliothek umfasst rund 4300 Einheiten, wovon es sich zum größten Teil um Bücher, aber auch um Zeitschriften, Typoskripte und weitere Ressourcentypen handelt. Den Kern bilden rund 1500 Bände, die nach Manns Tod als erste Schenkung von der Familie an die ETH übergeben wurden. Im Lauf der Zeit nahm der Bestand mit weiteren Schenkungen und Ankäufen seitens des Archivs deutlich zu. Die Nachlassbibliothek ist damit konzeptuell etwas anderes, zugleich mehr und weniger als die Privatbibliothek des Schriftstellers zu Lebzeiten: Nicht allein Thomas Mann, sondern auch seine Erbengemeinschaft sowie die Entscheidungstragenden des Archivs müssen als Bestandsbildner gelten. So zählen zur Nachlassbibliothek heute beispielsweise auch rund 100 Titel, die erst nach Manns Tod publiziert, von den Erben aber dennoch als der Nachlassbibliothek zugehörig erachtet und dem Archiv übergeben wurden; darunter Texte zum Gedächtnis an den Verstorbenen, aber auch Neuausgaben und Übersetzungen von Thomas Manns eigenen Werken mit Erscheinungsdaten bis in die frühen 1960er-Jahre. Notwendigerweise enthält die Nachlassbibliothek weder alle Bücher, die Mann je besessen, noch alle, die er gelesen hat; trotz Manns Exilbiographie sind jedoch zahlreiche Bände aus verschiedenen Lebensphasen überliefert (Jaspers 2020; Jaspers/Kilcher 2020, S. 28). Dass zudem viele der erhaltenen Exemplare Stiftspuren schriftlicher und nichtschriftlicher Art, Einlagen und andere Gebrauchsspuren unterschiedlicher Provenienz enthalten, macht die Sammlung für die Forschung besonders interessant.
Der Fokus der Erschließung liegt auf den Lesespuren mit Urheberschaft Thomas Manns. In der Datenbank erscheinen dementsprechend nur die Einheiten, die Thomas Mann zumindest potentiell besessen haben kann, wobei aus pragmatischen Gründen das Todesjahr anstelle von Manns exaktem Sterbedatum als Ausschlusskriterium gilt. Digital bereitgestellt sind somit die Exemplare der Erscheinungsjahre bis und mit 1955. Von diesem Ausschluss abgesehen wurden im Sinn einer Geringhaltung editorischer Vorentscheide alle Einheiten, deren Gebrauchsspuren den am Material entwickelten Erschließungskriterien entsprechen, integral gescannt und stehen als digitale Faksimiles mit durchsuchbaren OCR-Volltexten zur Verfügung. Dazu gehören auch gut 100 Buchexemplare, die Gegenstand der Enteignung durch den NS-Staat waren und als solche eindeutig identifizierbar sind. Teildigitalisiert sind Einheiten, die – von Widmungen oder Besitzvermerken Dritter abgesehen – keine weiteren Spuren aufweisen.
Zu ermitteln waren zunächst manuell sämtliche Exemplare, die den Digitalisierungskriterien entsprechen; gescannt wurden insgesamt rund 2700 physische Einheiten. Deren verschiedene Unikalisierungsmerkmale sind in Anlehnung an archivarische und bibliothekarische Standards wie den Thesaurus der Provenienzbegriffe, aber angepasst an die materielle Spezifik der Nachlassbibliothek Thomas Manns kategorisiert. Die Datenbank beruht damit auf einem erweiterbaren Katalog von Phänomenen, die spezifisch in Autor:innenbibliotheken auftreten (Bamert 2021). An den Digitalisaten sind diejenigen Phänomene einzeln erschlossen, die sich auf den Gebrauch des jeweiligen Exemplars zurückführen lassen. Nicht berücksichtigt sind dagegen die standardisierten Akzessionsmerkmale des TMA und Phänomene, die eindeutig aus dem Produktionsprozess stammen.
Für die Erschließung und Präsentation wurde eine an der ETH-Bibliothek bereits für digitalisierte Zeitschriften (E-Periodica) erprobte Software (AGORA) weiterentwickelt. Der Import der Digitalisate erfolgt mittels eines zentralen Java-Workflow-Clients, wobei Derivate der Digitalisate sowie Volltexte erstellt werden; als OCR-Engine kommt der ABBYY FineReader zum Einsatz. Mit einem weiteren zentralen Java-XML-Editor erfolgt im nächsten Schritt die Erfassung der Lesespuren mit Positionsrahmen, ihre Beschreibung mit standardisierten Attributen, ebenso die Transkription der schriftlichen Spuren. Die bibliographischen Metadaten basieren auf den Katalogisaten der ETH-Bibliothek und stehen auch für die nicht digitalisierten Exemplare zur Verfügung, was auf dieser Ebene eine vollständige Recherche in der Nachlassbibliothek erlaubt. Die Nutzungsoberfläche dient der Anzeige der Digitalisate, der Recherche in allen drei Textkorpora sowie der Navigation in den digitalisierten Einheiten und der Filterung der Phänomene. In einer Miniaturansicht erscheinen die Suchtreffer aus den verschiedenen Textkorpora je unterschiedlich markiert.
Die digitalisierten Werke unterstehen zu großen Teilen noch dem Urheberrecht. Geschützte Inhalte sind online dennoch durchsuchbar und es werden Trefferlisten für sie angezeigt, die Digitalisate selbst können jedoch auf diesem Weg nicht alle eingesehen werden. In der Online-Version der Datenbank erscheinen nur rechtefreie Inhalte, wobei jährlich die neu rechtefrei werdenden Inhalte freigeschaltet werden. Von dieser Erleichterung sowohl der externen als auch der Zugänglichkeit im internen Bereich abgesehen bringt die Digitalisierung der Nachlassbibliothek auch einen beträchtlichen konservatorischen Nutzen, weil die physischen Originalbände nur noch in speziellen Fällen konsultiert werden müssen (vgl. Vogeler 2019). Reine Textrecherchen lassen sich am Bildschirm wesentlich unkomplizierter durchführen, dazu kommt das spezifische Erkenntnispotential einer digitalen Edition (Jaspers 2022; vgl. auch Stigler 2013).
Wichtige Aspekte der Datenbank sind die größtmögliche Vollständigkeit, mit der die in den Büchern vorhandenen Unikalisierungsphänomene erfasst, sowie die Umsicht, mit der auf eine Vordeutung der erfassten Phänomene möglichst verzichtet wurde. Transkriptionen werden prinzipiell zeichengetreu wiedergegeben, und nur, wo es im Sinn der Durchsuchbarkeit steht, sind sie zusätzlich auch normalisiert respektive eindeutig interpretierbare Abkürzungen aufgelöst. Forschende sollen in ihren Recherchen beispielsweise die Funktion und Intention, auch kontextuelle und Werkzusammenhänge der Lesespuren eigenständig beurteilen, ebenso deren Urheberschaft dort, wo sie nicht bei der Erschließung zweifelsfrei ermittelt werden konnte. Die Datenbank ist nicht als historisch-kritische Maximal-Edition konzipiert, sondern der Archivausgabe näherstehend als möglichst interpretationsoffenes Forschungsinstrument mit dem Potential zur Erweiterung sowohl des Korpus als auch der Erschließung.
[1] Gesamtprojektleitung: Andreas B. Kilcher (Professur für Literatur- und Kulturwissenschaft); Projektverantwortung Thomas-Mann-Archiv: Katrin Bedenig; Koordination Thomas-Mann-Archiv: Katrin Keller; Technische Leitung: Michael Ehrismann; Wissenschaftliche Koordination: Anke Jaspers; Koordination Digitalisierung: Roman Jehli und Regina Wanger; Wissenschaftliche Mitarbeit: Manuel Bamert und Martina Schönbächler.
Literatur:
- Bamert, Manuel. 2021. Stifte am Werk. Phänomenologie, Epistemologie und Poetologie von Lesespuren am Beispiel der Nachlassbibliothek Thomas Manns. Göttingen. URL: https://doi.org/10.46500/83535064.
- 2021. In: XML-Datenset zu den stiftlichen Lesespuren in Thomas Manns Nachlassbibliothek.
- Hollender, Gabriele; von Moos, Marc; Sprecher, Thomas. 2006. Die Bestände. In: Im Geiste der Genauigkeit. Das Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich 1956–2006. Hrsg. von Thomas Sprecher. Frankfurt am Main, S. 331–366.
- Innocenti, Clara; Martin, Dieter; Proks, Robin. 2017. Wielands virtuelle Bibliothek. Möglichkeiten und Grenzen der digitalen Rekonstruktion einer versteigerten Autorenbibliothek. In: Editio. Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft 31, S. 117–144.
- Jaspers, Anke; Kilcher, Andreas B. 2020. Einleitung: Lesen und Schreiben am Rand der Bücher. In: Randkulturen. Lese- und Gebrauchsspuren in Autorenbibliotheken des 19. und 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Anke Jaspers und Andreas B. Kilcher. Göttingen, S. 7–34.
- Jaspers, Anke. 2020. (Frau) Thomas Manns Bibliothek. Autorenschaftsinszenierung in der Nachlassbibliothek. In: Randkulturen. Lese- und Gebrauchsspuren in Autorenbibliotheken des 19. und 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Anke Jaspers und Andreas B. Kilcher. Göttingen, S. 141–165.
- Jaspers, Anke. 2022. Digitalisierung als epistemische Praxis. Vom Nutzen und Nachteil der digitalen Katalogisierung und Erschließung von Autor:innenbibliotheken. In: Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge 32, S. 133–154.
- Ehrismann, Michael; Keller, Katrin. 2018. Digitaler Zugang zu Lesespuren: Das Projekt „Thomas Mann Nachlassbibliothek“ an der ETH Zürich. Zürich. URL: https://doi.org/10.3929/ethz-b-000282300.
- Stigler, Johannes. 2013. Anmerkungen zu einem generischen Verständnis des Begriffes „Digitale Edition“. In: Brief-Edition im digitalen Zeitalter Brief-Edition im digitalen Zeitalter. Hrsg. von Elke Richter, S. 43–51.
- Vogeler, Georg. 2019. Digitale Editionspraxis. Vom pluralistischen Textbegriff zur pluralistischen Softwarelösung. In: Textgenese in der digitalen Edition 45. Hrsg. von Anke Bosse und Walter Fanta, S. 117–136.