Roman Bleier, Eva Ortlieb, Florian Zeilinger
Im Frühsommer 1576 versammelten sich in Regensburg Kaiser Maximilian II. und seine Räte sowie rund 200 Stände des sog. Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation bzw. deren Vertreter. Bis Mitte Oktober desselben Jahres verhandelten sie über reichspolitische Fragen (Steuer, Religion, Justiz) und Außenpolitik (Frankreich, Polen, Russland). Ebenfalls präsent waren Gesandte auswärtiger Mächte sowie zahlreiche Bittsteller.
Mit dem Reichstag (Kurzüberblick: Liebmann 2009) hatte sich das Reich ein Forum geschaffen, um mittels kommunikativer Prozesse zu gemeinsamen Entscheidungen zu gelangen. Die Versammlungen stehen damit im Kontext europaweiter vormoderner Ständeversammlungen bzw. Parlamente (Hébert 2014).
Bereits im 19. Jahrhundert erkannte man die Bedeutung der Überlieferung dieser Versammlungen. In den vier Abteilungen der Editionsreihe „Deutsche Reichstagsakten“ wurden inzwischen zahlreiche Bände veröffentlicht, von denen einige auch digitalisiert vorliegen.1 Zwei Einschränkungen lassen sich dennoch nicht völlig ausgleichen. Die auf das gedruckte Buch zugeschnittene Erschließung erweist sich als zu wenig flexibel, um das Quellenmaterial für vielfältige Fragestellungen verwendbar zu machen. Die weitgehende Beschränkung des editorischen Blicks auf die Inhalte der Beratungen ließ andere Aspekte in den Hintergrund treten. Beides betrifft insbesondere das in den letzten Jahren verstärkte Interesse an Interaktion, Kommunikation und Verfahren auf frühneuzeitlichen Ständeversammlungen.
Die bisher geltenden Editionsrichtlinien für die Reichstage ab der zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts wurden 1988 festgelegt (Lanzinner 1988, 65-80). Sie trugen dem Umfang des Aktenmaterials Rechnung, indem sie das Editionskonzept formal, zeitlich und inhaltlich so eng wie möglich definierten (Haug-Moritz 2020, 20; Lanzinner 1988, 66-69). Die einzelnen Editionen listeten die eingesehenen Archivbestände und Archivalien auf; nur wenige, nämlich maximal fünf der potenziell mehr Abschriften einzelner Stücke wurden explizit genannt. Dem seinerzeit im Zentrum stehenden Erkenntnisinteresse an ständischen Versammlungen Rechnung tragend dokumentieren sie, was den Reichstag in seiner Gesamtheit betrifft (v.a. proponierte Verhandlungspunkte und -ergebnisse bzw. vor der Mainzer Kanzlei Präsentiertes), dazu die Protokolle einzelner Kurien über deren interne Beratungen. Während vieles teils im Volltext transkribiert und kollationiert, teils regestiert wurde, bot man die Supplikationen einzelner Bittsteller lediglich im Aktenreferat dar (Lanzinner 1988, 27-32; 86-87; 110; 113).
Mit der gegenständlichen digitalen Edition, finanziert durch die DFG und den FWF, beschreitet die HiKo in Kooperation mit dem ZIM an der Universität Graz nun neue Wege, um den Benützer/innen vielfältigere und zugleich einfachere Arbeiten mit den Reichstagsakten zu ermöglichen. Die Edition ruht dabei auf drei Säulen:
(1) Erstmals wird eine Datenbank mit der archivalischen Dokumentation der Überlieferung (AD) angelegt, welche die entsprechenden zentralen, zu dieser Zeit bereits stark angewachsenen Aktenbestände auf Stückebene verzeichnet und die Auswahl der Quellen für die Transkription transparenter macht. Verzeichnet werden dabei rund 10.000 Stücke aus 36 Archiven. Zu einigen Archivalien (Supplikationen) werden in Kooperation mit dem Österreichischen Staatsarchiv auch Bilder zur Verfügung gestellt.
(2) Daneben wird eine digitale Edition erstellt, wodurch weit mehr Volltexte dargeboten werden können als zuvor. Insgesamt wird die Edition Material im Umfang von rund 4.000 Seiten enthalten. Protokolle werden dabei integral im Volltext transkribiert und in der AD tagesgenau erfasst. Auch Berichte einzelner Reichstagsgesandten an ihre Herren werden erstmals transkribiert.
(3) Verbunden werden die ersten beiden Säulen der Edition durch eine Datenbank, die auf Grundlage eines projektspezifischen Modells mit Daten aus der AD und den edierten Texten befüllt wird. Dabei liegt der editorische Fokus, Forschungen zum vormodernen Parlamentarismus folgend, auf dem für Reichstage zentralen Aspekt des Beratens bzw. der Interaktion und Kommunikation zwischen den politischen Akteuren (Haug-Moritz 2021, o.S.).
Die Langzeitarchivierung der Projektdaten und die Umsetzung der digitale Edition erfolgt im Geisteswissenschaftlichen Assetmanagement System (GAMS) der Universität Graz.
Die AD und die edierten Texte werden in TEI repräsentiert, wobei beim Datenmodell der AD eine Anbindung an die Encoded Archival Description (EAD) geschaffen wurde und beim Datenmodell für die Edition die bisherigen editorischen Richtlinien und die Praxis der Editionsbände der Reichstagsakten berücksichtigt wurden. Das kommunikations- und interaktionszentrierte Datenmodell ist einerseits in der Auszeichnung von Personen, Orten, Daten und Themen und der Anbindung an entsprechende Normdaten (GND, Geonames) realisiert, andererseits durch die Zuordnung der Entitäten zu einer im Projekt entwickelten Domänenontologie von Kommunikation in vormodernen parlamentarischen Versammlungen, die wiederum an die Top-Level-Ontology CIDOC CRM (E5 Event) anknüpft. Die zusätzliche TEI-Anreicherung erfolgt mithilfe von kontrolliertem Vokabular im TEI Attribut @ana. Basierend auf der Ontologie werden Daten aus dem TEI extrahiert und als RDF in einen Triplestore gespeichert. Der Triplestore ist die bereits oben erwähnte Datenbank, die, als dritte Säule der Edition, eine wichtige Erschließungsfunktion hat. Dieses Verfahren kommt auch bei anderen Projekten am ZIM zum Einsatz (Pollin & Vogeler 2014, Pollin 2019) und realisiert, durch die Verwendung von RDF, die Anknüpfung an CIDOC CRM und entsprechende Normdaten, die Anbindung der Editionsdaten an das Web of Data. Georg Vogeler hat diese Art von Editionen, die sich auf die Inhaltsebene der Texte konzentrieren, diese über eine Datenbank erschließen und für komplexe Fragestellungen aufbereiten, Assertive Editions genannt (siehe auch Vogeler 2019). Das Projekt Regensburger Reichstag 1576 -- digital strebt an, eine solche Edition umzusetzen und damit neue Forschungsperspektiven zu eröffnen.
Anmerkungen:
1 Bandübersicht: https://www.historischekommission-muenchen.de/publikationen.html. Digitalisiert: https://www.historischekommission-muenchen.de/digitale-publikationen/reichsversammlungen-und-reichstage-1376-1662.html.
Literatur:
- Angermeier, Heinz. 1988. Vorwort des Abteilungsleiters. In Der Reichstag zu Speyer 1570, hg. von Maximilian Lanzinner. (Deutsche Reichstagsakten. Reichsversammlungen 1556-1662), 19-25. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
- Encoded Archival Description, https://www.loc.gov/ead/.
- Haug-Moritz, Gabriele. 2020. Ständeversammlungen digital edieren. Ein neues Editionskonzept für den Reichstag (RT) 1576(–1662): Grundlagen, editorische Konsequenzen, praktische Umsetzung. (Arbeitspapier als Diskussionsgrundlage). https://static.uni-graz.at/fileadmin/projekte/reichstagsakten-1576/Homepage/Materialien_Workshop_2_Editionskonzept.pdf.
- Haug-Moritz, Gabriele. 2021. „Deliberieren. Zur ständisch-parlamentarischen Beratungskultur im Lateineuropa des 16. Jahrhunderts“. Historisches Jahrbuch Nr. 141, im Druck.
- Hébert, Michel. 2014. Parlementer. Assemblées représentatives et échange politique en Europe occidentale à la fin du Moyen Age. Paris: Éd. deBoccard.
- Lanzinner, Maximilian, Hg. 1988. Der Reichstag zu Speyer 1570. (Deutsche Reichstagsakten. Reichsversammlungen 1556-1662). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
- Liebmann, Edgar. 2009. „Reichstag“. In Enzyklopädie der Neuzeit Bd. 10, hg. von Friedrich Jaeger, 948-953. Stuttgart: Metzler.
- Pollin, Christopher. 2019. „Digital Edition Publishing Cooperative for Historical Accounts and the Bookkeeping Ontology“. In RODBH 2019, Proceedings of the Doctoral Symposium on Research on Online Databases in History, hg. von Thomas Riechert, Francesco Beretta und George Bruseker, 7-14. http://ceur-ws.org/Vol-2532.
- Pollin, Christopher und Georg Vogeler. 2014. „Semantically Enriched Historical Data. Drawing on the Example of the Digital Edition of the ‘Urfehdebücher der Stadt Basel’“. In Proceedings of the Second Workshop on Humanities in the Semantic Web (WHiSe II), hg. von Alessandro Adamou, Enrico Daga und Leif Isaksen, 27-32. http://ceur-ws.org/Vol-2014/paper-03.pdf.
- Vogeler, Georg. 2019. „The ‘assertive edition’. On the consequences of digital methods in scholarly editing for historians“. International Journal of Digital Humanities Nr. 1: 309-322. https://link.springer.com/article/10.1007/s42803-019-00025-5.