Sabine Seelbach
Virtuelle Bibliotheken sind Webportale, die räumlich entfernte Leseobjekte physischer oder elektronischer Daseinsform in einem digitalen Wissensraum zusammenführen und simultan verfügbar machen. Abseits der seit den 1990er Jahren bereits genutzten Methoden zur Volltextsuche und Literaturrecherche, die die traditionelle Bibliothek als materiellen Ort des Lesens begrenzter, physisch verfügbarer Bestände tendenziell ablösten, war das Konzept der virtuellen Bibliothek in jüngerer Zeit in nachgerade gegenläufiger Bewegung verstärkt auf die Rekonstruktion und Bewahrung temporärer Lesegemeinschaften ausgerichtet (vgl. Rapp/Embach 2008, Philippi/Vanscheidt 2014, Seelbach 2017, Nemes 2020). Innerhalb solcher Bemühungen hat insbesondere die mittelalterliche Bibliothek einen zentralen Stellenwert gewonnen und dies nicht allein wegen des allerorts beobachtbaren Attraktions- und Prestigekapitals des kulturell Ältesten. Durch die Rekonstruktion mittelalterliche Bibliotheken werden vielmehr die Bildungsfundamente für eine Archäologie der Moderne freigelegt (Embach/Moulin/Rapp 2011), aber auch die spezielleren Konturen regionaler und institutioneller Identität sichtbar gemacht. Da mittelalterliche Bibliotheken überwiegend das Schicksal der Zerschlagung und multiplen Dislozierung der Bestände in Folge von Klosterauflösungen am Beginn der Moderne teilen, können sie in besonderem Maße von Vorteilen der Digitalisierung profitieren: Emanzipation von Raum und Zeit, Grenzkostenmarginalisierung, Validierung der Erkenntnisse, Akzeleration der Informationsprozesse (Kirmße/Schneider 2019).
Im paradigmatischen Fall der Rekonstruktion der Bibliothek des Benediktinerklosters St. Matthias in Trier wurden beispielsweise 526 Handschriften des ehemaligen Klosterbestands aus 34 heute bekannten Standorten zusammengeführt und somit erstmals geschlossen sichtbar und beforschbar gemacht.1 Die Präsentation zielte auf Nachhaltigkeit und ein breites Spektrum an Zugängen (Projekt-Homepage, Bibliotheken der Stadt Trier, Handschriftenportal Manuscripta mediaevalia 2). Dazu profitierte das Projekt von der Verknüpfung mit der virtuellen Forschungsumgebung TextGrid 3 (mit integriertem Tool Digilib zur Unterstützung der Bilddatenarbeit) mit ihrer komplexen Metadatenverwaltung und den vielfältigen Möglichkeiten der Verlinkung der Text- und Bilddaten, etwa mit Transkriptionen und Editionen, sowie zur Langzeitarchivierung (Rapp 2006, Raspe/Casties 2006) und nutzte Methodologien des web 2.0 wie z.B. das nutzerorientierte Kommentieren und Annotieren und Ontologien zur interpretatorischen Tiefenerschließung der dokumentierten Quellen (Ciula/Spence/Vieira 2008).
Neben institutionenübergreifenden Projekten wie Fragmentarium 4 oder E-Codices5 wird in jüngerer Zeit wird auch wieder auf niederschwelligere, weniger komplexe, gleichwohl entwicklungsfähige open-source basierte Lösungen gesetzt. Projekte wie z.B. Johann Fischart kommentieren 6, ArcheoInf 7, SalzWiki 8, forschungsdaten.org 9, oder eben die Virtuelle Benediktiner-Bibliothek Millstatt 10 verwenden die von den MediaWiki-Entwicklern bereitgestellte freie Software nach dem Muster von Wikipedia und WikiCommons, die es ermöglicht, Daten zur Verfügung stellen, die auf stetige Erweiterungen, Korrekturen und zahlreiche bzw. wechselnde Beiträger (Autoren) angewiesen sind. Sie erlaubt Verlinkungen zu den Datenbanken mit den Beschreibungen und Bilddaten der besitzenden Institutionen (Bibliotheken), Verknüpfungen mit Normdaten und eine nachhaltige Nachnutzung.
Die Bibliothek des Benediktinerklosters Millstatt, im Mittelalter einer der umfangreichsten Buchbestände Kärntens, wurde nach der Auflassung des Klosters über weite Teile Europas verstreut. Dabei wurde nicht selten die Herkunft aus Millstatt verschleiert, was für die Identifikation der Bücher detektivischen Spürsinn erforderte. Ziele des Projekts, das sich den Bemühungen um digitale Vermittlung des kulturellen Erbes zuordnet, bestehen darin, die Handschriften dieser Bibliothek vollständig zu digitalisieren, nach modernen Prinzipien zu erschließen, sie in einer virtuellen Bibliothek wieder zusammenzuführen und somit erstmals geschlossen sichtbar zu machen und einer eingehenden Erforschung der frühen Wissenschaftsgeschichte Millstatts zur Verfügung zu stellen. Für die Präsentation der Daten wurde eine Form gewählt, die die Bearbeitung und Erweiterung der Datenbasis jederzeit ermöglicht, weltweit lesbar und mit den relevanten internationalen Handschriftendatenbanken (Manuscripta mediaevalia, manuscripta.at 11) vernetzt ist.
Aktuell können folgende Ergebnisse präsentiert werden:
- Insgesamt konnten im Laufe der Vorarbeiten zum Projekt bislang 153 Handschriften eindeutig dieser Provenienz zugeordnet und in einen Arbeitskatalog aufgenommen werden. Dieser verzeichnet die Standorte, Signaturen und Inhalte.
- Von diesen Handschriften sind bislang ca. 80% in Kooperation der UB Klagenfurt mit dem Handschriftenzentrum der Uni Graz digitalisiert worden. Diese Arbeit wird kontinuierlich und zügig fortgeführt.
- Etwa 25% der identifizierten Handschriften wurden im Rahmen von Projektseminaren unter maßgeblicher Beteiligung von Studierenden bereits neu beschrieben und tiefenerschlossen. Mit Hilfe der vorhandenen Handschriftendatenbanken ist es dabei häufig gelungen, den Katalog von Hermann Menhardt (1927) zu ergänzen und zu berichtigen, d.h. Texte exakt zu identifizieren, Autoren zuzuweisen, Parallelüberlieferungen zu ermitteln und die Standorte der in Millstatt fehlenden Codices (z.B. im Falle mehrbändiger Werke) zu ermitteln.
- Eine Homepage mit assoziiertem Wiki wurde erstellt (https://virtbibmillstatt.com).
Eingepflegt wurden bislang die Handschriftenbeschreibungen des Pilotprojekts, das ca. 25% des Gesamtkorpus beinhaltet. Eine solche Pilotphase war notwendig, da für die Findung von praktikablen technischen Lösungen eine Zeit des Experimentierens eingeräumt werden musste.
Anmerkungen:
1 https://stmatthias.uni-trier.de.
2 http://www.manuscripta-mediaevalia.de.
3 www.textgrid.de.
4 https://fragmentarium.ms.
5 https://www.e-codices.unifr.ch/de.
6 https://wiki.uni-bielefeld.de/kommentieren/index.php/Gkl:komm.
7 https://projekte.itmc.tu-dortmund.de/projects/tua-archeoinfdfg.
8 https://www.salzwiki.de/index.php/Startseite.
9 https://www.forschungsdaten.org/index.php/Kategorien:Projekte.
10 https://virtbibmillstatt.com.
11 https://manuscripta.at.
Literatur:
- Adriana Ciula, Paul Spence, José Miguel Vieira: Expressing complex associations in medieval historical documents. In: Literary and Linguistic Computing 23 (2008), S. 311-325.
- Michael Embach, Claudine Moulin, Andrea Rapp: Die mittelalterliche Bibliothek als digitaler Wissensraum. Zur virtuellen Rekonstruktion der Abteibibliothek von Trier-St. Matthias, in: Ralf Plate, Martin Schubert (Hrsg.): Mittelhochdeutsch. Beiträge zur Überlieferung, Sprache und Literatur. Berlin/Boston 2011, S. 486—497.
- Stefan Kirmße, Helmut Schneider: Die acht Gesetze der Digitalisierung. In: FAZ 23. 9. 2019, S. 16.
- Balazs Nemes, Martina Backes: Buochmeisterinne. Handschriften und Frühdrucke aus dem Freiburger Dominikanerinnenkloster Adelhausen https://2020.freiburg.de/pb/1408020.html
- Sabine Philippi, Philipp Vanscheidt (Hrsg.): Digitale Rekonstruktionen mittelalterlicher Bibliotheken. (Trierer Beiträge zu den historischen Kulturwissenschaften 12.) Wiesbaden 2014.
- Andrea Rapp; Michael Embach: Die Bibliothek der Benediktinerabtei St. Matthias in Trier — ein europaweites Projekt zur Volltextdigitalisierung und virtuellen Rekonstruktion der Handschriften, in: Andrea Rapp, Michael Embach (Hrsg.): Rekonstruktion und Erschließung mittelalterlicher Bibliotheken. Berlin 2008, S. 147-169.
- Andrea Rapp: Das Projekt TextGrid. Modulare Plattform für verteilte und kooperative wissenschaftliche Textdatenverarbeitung – ein Community-Grid für die Geisteswissenschaften. http://www.ahf-muenchen.de/Forschungsberichte/Jahrbuch2006/AHF_Jb2006_FB_BI_Rapp.pdf .
- Martin Raspe, Robert Casties: Digilib. Wissenschaftliches Bildmaterial studieren und kommentieren im Internet. www.mpg.de/bilderBerichteDokumente/dokumentation/jahrbuch/2006/bibliotheca_hertziana/forschungsSchwerpunktI/index.html.
- Sabine Seelbach: Colligite fragmenta ne pereant. Zum Bestand der Millstätter Benediktiner-Bibliothek. https://www.aau.at/wp-content/uploads/2017/08/16-12-06_Kostbarkeiten-9_Einleitung_Seelbach.pdf
- Ulrich Seelbach: Ein moderierter Kommentar zu Fischarts Geschichtklitterung. In: Johann Fischart, genannt Mentzer. Frühneuzeitliche Autorschaft im intermedialen Kontext. Hrsg. von Tobias Bulang. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2019 (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung Band 37), S. 273-292.