Jurst-Görlach, Denise; jurst-goerlach@em.uni-frankfurt.de
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Ein Brief ist ein Schriftstück, das üblicherweise von einer Person oder Organisation (Absenderin/Absender) an eine andere (Empfängerin/Empfänger) gesendet wird. Im weiteren Sprachgebrauch zählen dazu auch Korrespondenzstücke wie Postkarten, Telegramme, Faxe, E-Mails etc. Daneben gibt es verwandte, nicht-private Kommunikationsformen wie offene oder Leserbriefe sowie nicht primär der Kommunikation dienende literarische Formate, etwa Briefromane oder -gedichte. Eine Briefedition ist eine Edition solcher Korrespondenzen, wobei der Begriff je nach Projektzusammenhang und Forschungsfragen enger oder weiter gefasst wird. Prima facie unterscheidet diese sich nicht wesentlich von der Edition anderer Ego-Dokumente (etwa Tagebücher), jedoch gibt es, bedingt durch die Eigenheit des Quellenmaterials, einige Besonderheiten zu berücksichtigen.
Meist steht – ähnlich wie in Werkausgaben – eine Person oder Personengruppe im Fokus der Edition (Ego-Netzwerk), es gibt aber auch Zugänge, die einen bestimmten Zeitraum, eine geographische Region oder ein Genre in den Mittelpunkt stellen (z. B. “Briefe und Texte aus dem intellektuellen Berlin um 1800”; Liebesbriefe im Citizen-Science-Projekt “Gruß & Kuss”). Bietet eine Edition von Ego-Netzwerken auch Briefe an, die weder von der Hauptperson verfasst noch an sie gerichtet sind, handelt es sich um sogenannte ‘Drittbriefe’.
Aus der Wechselseitigkeit des Schriftverkehrs ergibt sich mitunter eine komplizierte Überlieferung. Während die Briefe an eine Person meistens in einem Archiv liegen, können Briefe von ihr überall auf der Welt verstreut sein. Häufig tauchen Briefe, die als verschollen galten oder unbekannt waren, während der Editionsarbeit beispielsweise in Auktionskatalogen, Antiquariaten, Archiven oder privaten Nachlässen auf. Das macht die Quellenrecherche und -beschaffung schwieriger und bringt Ungewissheit in die Planung der Edition. Zusätzlich muss – vor allem bei der Edition jüngerer Quellen – besondere Rücksicht auf Urheber- und Verwertungsrechte genommen werden, da zwar die eigentlichen Urheberrechte dem oder der Schreibenden zukommen, zusätzlich aber auch Empfängerinnen oder Empfänger Rechtsinhaber eines Korrespondenzstücks sein können. Unter gewissen Umständen erwerben auch Personen oder Körperschaften, die an der Transkription, Digitalisierung oder Edition von Korrespondenzen beteiligt sind, eigene Leistungsschutzrechte. Darüber hinaus können in Briefen erwähnte Personen mitunter Persönlichkeitsrechte geltend machen, etwa wenn über sie in diffamierender Weise gesprochen wird. (s. ausführlich Klimpel 2022)
Eine weitere Besonderheit bei der Edition von Korrespondenzen zeigt sich in der Kommentierung. Da Briefe in der Regel nicht mit Blick auf ihre Veröffentlichung verfasst werden und es zwischen den Korrespondenzpartnern mitunter großes geteiltes Vorwissen gibt, stellt die Identifizierung von erwähnten Personen, Werken oder sonstigen Anspielungen die Edierenden oft vor besondere Herausforderungen. Auch wenn nur die Briefe eines Korrespondenzpartners überliefert sind oder wenn das ‘briefliche Gespräch’ durch persönliche Kontakte oder – zunehmend seit dem 20. Jahrhundert – andere, nicht-schriftliche Kommunikationstechnologien unterbrochen wird, bilden sich Informationslücken, die durch die Kommentierung oft nicht vollständig geschlossen werden können.
Anders als in wissenschaftlichen Editionen v. a. literarischer Werke spielen textgenetische Aspekte bei der Edition von Briefen meist eine untergeordnete Rolle. Gibt es von einem Brief unterschiedliche Varianten – etwa Vorstufen (z. B. Vorlagen, Skizzen und Entwürfe) oder Kopien, die der Schreiber oder die Schreiberin bei sich behält oder weiterleitet – dient meist die ‘authentischste’, also dem abgesandten Brief am nächsten stehende Fassung als Grundlage für die Edition. Gibt es erhebliche Abweichungen, können auch Varianten als eigene Briefe in die Edition aufgenommen werden. Außerdem kann ein physisches Korrespondenzstück unter Umständen mehrere Briefe in der Edition rechtfertigen, wenn beispielsweise eine Person einen Brief erhält und diesen später mit Kommentaren an eine andere Person weiter sendet.
Viele Briefe haben auch Beilagen, häufig handelt es sich dabei um Schriftstücke wie Manuskripte, Zeitungsartikel etc., aber auch Gegenstände wie Haarlocken, Blumen u. a. finden in Briefkuverts Platz – ob und in welcher Form diese in die Edition aufgenommen werden, hängt v. a. vom Ziel der Edition ab. Meist wird auf Beilagen nur in Anmerkungen bzw. in den Metadaten hingewiesen und/oder sie werden als Digitalisat oder Fotografie zur Verfügung gestellt.
Oft kann ein Brief nicht eindeutig datiert werden. Werden die Briefe chronologisch gereiht, so werden diese meistens an jenem Punkt eingereiht, der den spätestmöglichen Punkt der Datierung darstellt. Um die Auffindbarkeit von Briefen zu steigern, ist es zudem ratsam, Normdaten in die Metadaten zu integrieren, sodass die maschinenlesbaren Metadaten nicht nur die Namen, sondern auch stabile, eindeutig referenzierbare Identifikatoren der beteiligten Personen, Körperschaften und Orte liefern. Letztere können so über die in den Normdateien hinterlegten Geokoordinaten auch leichter für Analysen und Visualisierungen genutzt werden.
Digitale Briefeditionen werden heute meist in XML/TEI codiert – ein Umstand, der zur Bildung
einer TEI Correspondence Special Interest Group führte,
die sich der Integration von korrespondenzspezifischen Metadaten und Textstrukturen in die Guidelines der TEI widmet. So wurde für die Erfassung der grundlegenden Metadaten
eines Briefes das Element <correspDesc>
eingeführt, in dem die Vorgänge des Sendens,
Empfangens und gegebenenfalls Weiterleitens eines Briefes ereignisbasiert
beschrieben werden. Eine <correspAction>
mit den möglichen @type-Werten sent, received, transmitted,
redirected oder forwarded enthält jeweils
Informationen zu an der Aktion beteiligten Personen, Körperschaften, Orten oder
Datumsangaben. Zusätzlich können Vorgänger- und Folgebriefe in <correspContext> offengelegt werden. <correspDesc> bildet zudem die Grundlage für
das Datenformat CMIF, das die
standardisierte Auswertung (und damit Vernetzung) von Korrespondenz-Metadaten
ermöglicht.
Auch für das Markup von in
Korrespondenzen häufig zu findenden Textstrukturen wie Datumszeile, Anrede,
Grußformeln, Unterschriften oder Postskripte stellt die TEI eigene Elemente
innerhalb der Bereiche <opener> und <closer> zur Verfügung (TEI 4.2.2
Openers and Closers). Eine umfangreiche Handreichung zur Auszeichnung
von Korrespondenzen legte die TEI Correspondence SIG mit
der Veröffentlichung von “Encoding Correspondence” (Dumont/Haaf/Seifert
2020) vor.
Ein Vorteil digitalen Edierens ist, dass Daten aus unterschiedlichen Quellen leichter zusammengetragen werden können, bei Briefeditionen über das Projekt correspSearch: Editorinnen und Editoren verschiedener Briefeditionen können ihre bibliographischen Metadaten dort im Metadatenformat CMIF zur Verfügung stellen, sodass Nutzerinnen und Nutzer gezielt nach Briefen etwa von oder an eine Person suchen können. Dadurch können Gegenbriefe in unterschiedlichen – digitalen, aber auch gedruckten – Editionen leichter gefunden werden und Netzwerke thematischer, geographischer oder personeller Art erforscht werden. Derzeit bemüht sich die TEI Correspondence SIG um eine weitere Anreicherung der im CMIF geteilten Daten, um im Brief erwähnte Entitäten wie Personen, Körperschaften oder Orte.
Literatur:
- Bohnenkamp, Anne; Richter, Elke (Hrsg.). 2013. Brief-Edition im digitalen Zeitalter. Berlin ; Boston.
- Dumont, Stefan. 2016. correspSearch – Connecting Scholarly Editions of Letters. In: Journal of the Text Encoding Initiative | December 2016 - July 2019, S. 1-21.
- Dumont, Stefan. 2018. Interfaces in Digital Scholarly Editions of Letters. In: Digital Scholarly Editions as Interfaces. Hrsg. von Roman Bleier, Martina Bürgermeister, Herlmut W. Klug, Frederike Neuber und Gerlinde Schneider. Norderstedt, S. 109-131.
- Dumont, Stefan. 2020. Kommentieren in digitalen Brief- und Tagebuch-Editionen. In: Annotieren, Kommentieren, Erläutern: Aspekte des Medienwandels. Hrsg. von Wolfgang Lukas und Elke Richter. Berlin, Boston, S. 175-193.
- Dumont, Stefan; Haaf, Susanne; Seifert, Sabine. Encoding Correspondence. A Manual for Encoding Letters and Postcards in TEI-XML and DTABf. URL: https://encoding-correspondence.bbaw.de/v1/
- Klimpel, Paul. 2022. In Bewegung. Die Rechtsfibel für Digitalisierungsprojekte in Kulturerbe-Einrichtungen. Berlin. URL: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0297-zib-86485.
- Matthews-Schlinzig, Marie Isabel; Schuster, Jörg; Steinbrink, Gesa; Strobel, Jochen (Hrsg.). 2020. Handbuch Brief. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Berlin. URL: https://doi.org/10.1515/9783110376531.
- Text Encoding Initiative, TEI Consortium. TEI 2.4.6 Correspondence Description. URL: https://tei-c.org/release/doc/tei-p5-doc/de/html/HD.html#HD44CD
- Text Encoding Initiative, TEI Consortium. TEI 4.2.2 Openers and Closers. URL: https://tei-c.org/release/doc/tei-p5-doc/de/html/DS.html#DSOC
- TEI Consortium. TEI element correspDesc. URL: https://tei-c.org/release/doc/tei-p5-doc/de/html/ref-correspDesc.html
- Vanhoutte, Edward; Branden, Ron Van den. 2009. Describing, transcribing, encoding, and editing modern correspondence material: a textbase approach. In: Literary and Linguistic Computing 24, S. 77-98.